Isa hatte sich immer schon auf Friedhöfen wohlgefühlt. Auf dem Weg von ihrem Zuhause in die angrenzende Kirche zu ihrem orgelspielenden Vater hatte sie seit sie laufen konnte immer den direkten Weg zwischen den Grabsteinen gewählt. Die Inschriften zu entziffern hatte sie nicht gelernt, aber die eingemeisselten Buchstaben und Zahlen, die im Winter oft vom Schnee verdeckt wurden, waren ihr vertraut wie Freunde. Im Winter 1940 überagten die meisten der Steine Isa noch und sie hätte sich beim Verstecken spielen gut hinter ihnen verbergen können. Auch in den folgenden Jahren hätte es noch gereicht, hinter dem Grab ihres Großvaters in die Hocke zu gehen, aber Kurtchen, dem einzigen anderen Kind in ihrem Alter, flösten die Geschichten von Skeletten und Geisterhänden, die aus den Gräbern nach Kindern griffen um sie hinab ins Reich der Toten zu ziehen, so viel Furcht ein, dass er Isa nie durch die kleine Pforte auf den Friedhof folgte.
23.03.2024 - 10:04:16
Das Manuskript meiner Mutter
Während Kurt in Meißen bei seiner Großmutter Henriette auf die Ergebnisse der Aufnahmeprüfung wartete, erlebte Isa ihren ersten Winter in Trutenau. Die Grabsteine und die Pumpe vor dem Haus waren weiß vor Schnee und ihre fünf Jahre ältere Schwester zog sie auf dem Schlitten vom Haus bis zur Chaussee und wieder zurück.
Isas Brüder lebten noch. Zwei von ihnen trugen bereits die Uniform. Dass sie so bereitwillig in den Krieg ziehen wollten, konnte ihre Mutter Lisbeth nicht verstehen. Etwas musste Besitz von ihnen ergriffen haben und sie taub für die Gebete werden lassen, mit denen sie sie groß gezogen hatte. Statt Jesus folgten sie nun dem 'Führer', der ihnen eine glorreiche Zukunft versprach.
Isa verstand von all dem worüber geredet wurde nichts. Sie lief lieber durch die Pforte zur offenen Kirchtür und lauschte dem Orgelspiel ihres Vaters.
16.11.2023 - 19:46:27