Rheinallee | 1

Auch Jahre später noch konnte auf Familienfeiern gut darüber gestritten werden wer nun wirklich Schuld an Jaspers gebrochenem Bein gewesen war. Isa war zwar vom Vorwurf der Verletzung ihrer Aufsichtspflicht vor Gericht freigesprochen worden, aber um diese Tatsache scherte sich ihre ältere Schwester herzlich wenig. Isa war doch schon immer nachlässig und unbekümmert gewesen. Wenn sie, Rita, nicht gewesen wäre, dann wäre Isa doch schon bei der Flucht aus Danzig verloren gegangen, wenn nicht gar schlimmer.  
Es war doch ganz klar, dass sie den Kleinen nicht alleine mit dem Roller vor das Haus hätte lassen dürfen. Und wenn drei mal die Nachbarskinder und sogar Leo aufgepasst hätten. Die Regeln waren klar und unmisverständlich: nur bis zur Ecke! Und nie, nie über die Strasse!!  
'Aber ich bitte dich', sagte Rita nicht zum ersten Mal, kopfschüttelnd, 'Leo war doch selber erst sechs. Da kannst du doch nichts erwarten.' Isa wusste genau, dass die Worte insgeheim an sie gerichtet waren. Sie saß zwar am anderen Ende des Wohnzimmers, neben dem Tannenbaum, aber Rita hatte ihre Stimme gerade genug ehoben, so dass Isa den Vorwurf nicht überhören konnte. 'Das altbekannte Spiel', dachte Isa im Stillen und kümmerte sich weiter um Jasper und Leo, die links und rechts neben ihr saßen und auf das Buch schauten, aus dem sie ihnen vorlas, 'Rita versucht wieder, mir meinen Platz zuzuweisen'.  
Das war eigentlich immer schon so gewesen, auch daheim, als Papa und ihr geliebter Bruder Erich noch da waren, erst recht später in Biebrich, als Emil sich ihrer Familie vorstellte. Isa konnte tun was sie wollte, Rita fand immer etwas an ihr auszusetzen. Dass es daran lag, dass Isa, das Sonnenscheinchen, Vaters Liebling geworden war, um derentwillen es so oft Streit zwischen den Eltern gab, war Isa nicht bewusst. Zumindest wusste sie nicht, dass ihre Schwester sich oft durch das innige Verhältnis zwischen Isa und ihrem Vater ausgeschlossen und alleine gelassen fühlte, was wiederum dazu führte, dass Rita sich ihrer strengen Mutter mehr und mehr näherte. Auf jedem Fall mehr als sie ursprünglich selber wollte. So kam es dann, dass Rita die Vernünftige wurde, die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister übernehmen musste und selten genug dazu kam, zu tun wo nach ihr wirklich war.  
 
Die Rollenverteilung innerhalb der 'Trümmerfamilie', wie Isa die aus der Heimat Vertriebenen für sich nannte, hatte sich über die Jahre verfestigt und alle ihre Versuche daran etwas zu ändern, waren gescheitert. Trotzdem kam sie jedes Jahr, besuchte erst ihre Mutter, dann nacheinander die Schwestern, zuerst nur mit Emil, dann mit ihrer eigenen Familie, Emil und den Jungs. Und hier neben ihr saß Jasper, der immer stolz darauf beharrte, kein Goldstück sein zu wollen, wenn Rita ihn so nannte und in den Arm zu nehmen versuchte. Der Jasper, der sich unter den Couchtisch verzog und böse guckte, bis die Tante sich mit enttäuschtem Blick wieder zurück in die Kissen lehnte und ihre Aufmerksamkeit auf Leo richtete, den sie fragte, wie es denn in der Schule gewesen wäre. Genau dieser Jasper war jetzt hier, das Bein lange verheilt, und keiner versuchte die Schuld dem Fahrer des Wagens zu geben, der ja nachweislich zu schnell unterwegs gewesen war, oder dem Nachbarsmädchen, wie hieß sie noch mal, Lisa?, Lisa Goldbach?, die von der Rheinwiesenseite gerufen hatte, dass die Strasse frei sei, oder Leo, der zwar schon groß genug gewesen war um die Fahrbahn überqueren zu dürfen, das hatten sie alles besprochen, aber der doch nicht Jasper alleine vor dem Haus zurücklassen durfte.  
 
Vor Gericht war alles zur Sprache gekommen und sie hatte sich auch einige Rüffel anhören müssen, doch letzlich hatte der Richter befunden, dass die ruhige Lage der Rheinallee, das geringe Verkehrsaufkommen und die Übersichtlichkeit der Umgebung dafür sprächen, dass Kindern im Alter von unter vier Jahren das Spielen im Freien vor dem Haus auch ohne ständige elterliche Aufsicht möglich sein müsse. Nun, die Sache mit dem Roller war erörtert worden, die erhöhte Gefahrenlage, die durch das Spielgerät hervorgerufen worden war, hatte das Gericht bewertet. Schlussendlich hatte Isa das Gerichtsgebäude straffrei verlassen dürfen. Das war jetzt schon lange genug her.  
Merkwürdig nur, dass nie jemand gefragt hatte, wie sie sich gefühlt hatte, als sie aus der Haustür gerannt gekommen war und Jasper hatte reglos auf der Strasse liegen gesehen. Der Fahrer des beigen Ford Taunus hatte die Autotür offen stehen gelassen und sich neben Jasper auf die Fahrbahn gekniet. Dass das Bein gebrochen sein musste, war nur zu deutlich zu sehen gewesen, schlimmer aber war gewesen, dass Jasper sich nicht rührte, dass er auch auf flehentliches Rufen seines Namens nicht reagiert hatte, als wäre er leblos, als wäre er gerade in dem Moment, als Isa zu ihm gestürzt kam, gestorben.  
Es wäre nicht das erste tote Kind gewesen, dass Isa hätte sehen müssen. Im Winter 1945 auf der Landstrasse, am kalten düsteren Tag, als sie selber noch ein Kind gewesen war, hatte sie im Strassengraben ein erfrorenes Kind gesehen, das von seiner Familie dort liegen gelassen worden war. Wer hätte es mitnehmen, wer dort begraben sollen? Alle waren auf der Flucht. Alle froren und hungerten. Keiner hatte noch Kraft, die Toten zu betrauern, das müsste irgendwann in der Zukunft nachgeholt werden, wenn es denn eine Zukunft geben sollte. Irgendwo.  
Die Flucht aus Pommern lag gerade zwanzig Jahre zurück und Isa stockte das Herz, als sie ihren Sohn vor sich liegen sah. Bis jetzt war sie den Schrecken ihrer Kindertage aus dem Weg gegangen, hatte vergessen. Von einer Sekunde auf die andere war die friedliche, kleine Welt, die sie sich hatte aufbauen können wie weggeblasen vom Sturm, der durch ihren Kopf tobte. Was sollte sie tun? Wer konnte helfen? Warum? Wo war Leo?  
Während ihre Gedanken noch durcheinanderwirbelten, kam der Krankenwagen vom Domimikus-Krankenhaus aus Heerdt mit Blaulicht und Sirene die Rheinalle herangefahren. Der Fahrer sprang aus dem Wagen, begutachtete mit wenigen, eingeübten Handgriffen den am Boden liegenden Jasper und beorderte den Fahrer des Unfallwagens und inzwischen aus den anliegenden Häusern getretenene Passanten, ihm zu helfen den kleinen Jungen auf die Trage zu legen und diese durch die Hecköffnung in den Rettungswagens zu schieben.  
'Kommen Sie mit mir, Frau Fengler', sagte eine Frauenstimme zu Isa, die hilflos mit ansah wie ihr jüngster Sohn abtransportiert wurde, 'wir gehen hoch zu mir, dann können Sie ihren Mann anrufen.' Isa drehte sich verwirrt um und sah ihrer Nachbarin, die umringt von den Kindern aus der Strasse auf der Fahrbahn stand in die Augen. Jetzt erst wurde ihr gewahr, dass Leo ihre Hand gegriffen hatte und zu ihr hoch schaute.  
Wozu Emil anrufen, was konnte das noch ändern? Sie schaute zu ihrem älteren Sohn herunter und versuchte, ihn liebevoll anzulächeln, ihm zu verstehen zu geben, dass er nicht verantwortlich für den Unfall war, aber es gelang ihr nicht. Sie musste hinter Jasper her, irgendwie, ins Krankenhaus, sie musste wissen, was mit ihm war. Sie drängte ihre Nachbarin dazu, Leo und die anderen Kinder mit in ihre Wohnung zu nehmen und Emil im Atelier anzurufen. Erst als sie sicher war, dass Leo versorgt war, und sie sich davon überzeugt hatte, dass Leo verstanden hatte, was er tun sollte, blickte sie sich hilfesuchend um.  
Den Polizisten, der den Unfallfahrer befragt hatte, sprach sie an: 'Fahren sie mich zum Krankenhaus, bitte, zu meinem Sohn!' Der Beamte betätigte kurz den Schalter am Lenkrad, sprach über das Funkgerät mit der Einsatzzentrale und ließ Isa dann auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Er startete den Motor, wendete den Wagen in Richtung Heerdt und fuhr los.  

19.01.2023 - 18:51:26