Kotheshof

Ika trug schon seit Jahren diesen kaum erträglichen Schmerz mit sich herum.  
Vom unteren Rücken strahlte er hin und wieder über das Knie bis ins Schienenbein hinunter. Nachts war es als stäche ein unsichtbarer Gnom unaufhörlich auf ihn ein. Egal auf welche Seite er sich drehte, er konnte nicht Schlafen.  
Merkwürdigerweise fühlte er sich dennoch nicht müde, wenn frühmorgens die Vögel vor seinem Schlafzimmerfenster vom ersten Sonnenlicht geweckt zu tschirpen begannen, sondern verspürte nur eine Art von Benommenheit, als stünde er unter der Wirkung von irgendwelchen psychoaktiven Substanzen oder verschreibungspflichtigen Tabletten. Beides Dinge, von denen er Finger ließ. Wenn er die Kontrolle über sich verlieren wollte, griff er zu Alkohol, und war froh über die Kopfschmerzen am darauffolgenden Tag, die ihn ermahnten die Zügel nicht so leichtfertig aus der Hand zu geben.  
 
Die Ärzte, die Ika jedesmal konsultiert hatte, wenn es ihm nicht mehr gelang morgens zur Arbeit zu gehen, waren keine Hilfe. Weder Ultraschall noch Röntgen oder MRT brachten irgendein messbares Ergebnis und die Schmerzmittel, die die Doktoren als Ausdruck ihrer Hilflosigkeit verschrieben, verschwanden schon bald in der Badezimmerschublade zwischen angebrochenen Pflasterpackungen und fleckigem Verbandmaterial, das wegzuschmeißen Ika schon seit Jahren hinauszögerte. Ob Ibuprofen, Tilidin oder Kortison - sie hatten alle keinen merkbaren Effekt gezeigt.  
Er fühlte sich von der Welt der Medizin im Stich gelassen und hatte sich insofern mit dem Schmerz arrangiert, als dass er ihn wie einen wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit betrachtete und nicht mehr dagegen anzukämpfen versuchte.  
 
Nach einiger Zeit begann er nachts mit seinem Schmerz Zwiegespräche zu führen. Anfänglich sprach er ihn wie eine zufällige Bekanntschaft an, der er auf einer längeren Bahnfahrt unvermittelt gegenüber saß, bald aber schon waren sie einander vertraut, hatten sie doch zu ihrer beiden Freude festgestellt, dass sie zu vielen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens ähnliche Auffassungen vertraten.  
 

13.06.2025 - 11:41:27

Kotheshof


28.09.2023 - 15:54:47

Die Bauern der Gegend hatten schon immer vermutet, dass das römische Kastell in der Mitte des Dorfes gestanden haben musste. Die Kirche, die Schule, Feuerwehrgebäude und Wohnhäuser waren einfach auf den Überresten der vergangenen Kultur errichtet worden. Soviel hatten sie schon zu Schulzeiten gelernt, dass Siedlungen, Schicht über Schicht gestapelt, wenig Rücksicht auf das Erbe der Vorfahren nahmen. Nicht Troja war hier untergegangen, nicht die Überreste Priamos, Hektors oder Kassandras waren hier unter dem Schutt der eingeäscherten Stadt langsam vermodert. Keine Heldenlieder, keine Theaterstücke rühmten die Taten der im Laufe der Jahrhunderte am Rheinufer vor Krefeld erschlagenen, erdolchten, verbluteten, aufgespießten Ubier, Batavier, Sugambrer oder Römer. Lediglich der fränkische Fürst Arpvar mit seinem Goldhelm sorgte für ein wenig Aufsehen, als er 1962 eher zufällig ausgebuddelt wurde. In und um Gellep herum waren schon viele Grabungen erfolgt. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, als das Dorf noch Gelb hieß, waren Gräberfelder und einzelne Gräber entdeckt und untersucht worden; auch war die Namensgleichheit mit dem römischen Gelbuda schon mehr als dreihundert Jahre kein Geheimnis mehr. Kurz bevor Jasper mit seiner Familie nach Heulesheim auf den Kotheshof zogen, wurden erstmals Beweise für die Präsenz des kaiserlichen römischen Reichs im knapp einen Kilometer entfernten Gellep gefunden.  
 
Die Kinder, die gemeinsam in die Schule an der Legionstraße gingen, ob nun in Gellep oder Stratum ansäßig, langweilte der kurze Ausflug zur Ausgrabungsstätte. Sie durften ja auch gar nicht runterklettern in das ausgeschachtete Erdloch. Zu sehen war aber so oder so nichts. Was die Archäologen dort mit ihren Studenten freigelegt hatten sah nicht anders aus als eine gewöhnliche Baugrube. So etwas hatten sie alle schon oft genug gesehen. Später, wieder im Unterricht, saßen sie vor großen bunten Schaubildern, die erklären sollten wie ein römisches Lager aufgebaut war, wie die Soldaten gekleidet waren und wie die verschiedenen Offizierstitel lauteten. Dazu noch einige Darstellungen, wie das Leben im römischen Reich ausgesehen haben sollte. Wagenrennen, Gladiatorenkämpfe, Tempel und Marktplätze.  
Ihr Lehrer erzählte so ausführlich von Kriegen und Eroberungen, dass er nicht merkte wie die Aufmerksamkeit der Klasse von Minute zu Minute abnahm.  

18.01.2023 - 21:50:44