Kotheshof | 5

Wie konnte es sein? Wieso kam Isa nicht? Es wurde inzwischen dunkel und Jasper stand in der Toreinfahrt, hielt Ausschau nach ihr. Nach links verlief die Heulesheimer Strasse zwischen den Stoppelfeldern als Feldweg weiter bis hinter den Golfplatz. Was ein Golfplatz war konnte Jasper sich ungefähr vorstellen. Als er vor der Einschulung mit seiner Tante in Barcelona im Hotel gewesen war, hatte er dort Golf gespielt. In Stratum musste der Platz allerdings riesig sein, denn er hatte bislang nur Bäume und eine ewig lange Hecke gesehen und keine der Bahnen mit den Löchern. Das war aber die falsche Richtung. Dorthin fuhren sie nie und von dort kam auch nie ein Auto. Manchmal ein Traktor. Fahrradfahren hatte er auf dem staubigen Weg gelernt. Isa hatte am Gepäckträger festgehalten, während er sich auf den Sattel gesetzt hatte, sonst wäre er umgekippt. Dann hatte Jasper seine Füße auf die Pedale gestellt und vorsichtig angefangen zu treten. Gleichmäßig, wie Isa es ihm erklärt hatte, verlagerte er das Gewicht mal auf das eine Bein, dann auf das andere. Er fuhr schon eine Weile, als er sich umdrehte um zu schauen ob Isa noch den Gepäckträger festhielt. Die Reifen knirschten auf dem staubtrockenen Schotterweg und Jasper geriet ein bischen ins Schlingern, weil er um nach hinten zu schauen sein Gewicht verlagert hatte. Nachdem er Isa hatte lachen und winken gesehen, konzentrierte er sich wieder, bremste langsam und drehte dann um. Er hatte es gelernt.  
Von rechts hätten die glubschäugigen Scheinwerfer von Isas Döschwo die Strasse hochleuchten sollen und der Motor hätte beim Beschleunigen kurz sein typisches hui-hui von sich geben sollen, bevor die Ente mit brummigem Geschnatter an ihm vorbei auf den Hof gerollt wäre. Aber Isa kam nicht. Seit dem Morgen, an dem Jasper ans Telefon gegangen war, war alles anders. Emil und Isa hatten irgendwas zu ihm und Leo am Abend gesagt, aber das war nicht bis zu ihm durchgedrungen.  
 
Seit Udo ihn angeschnauzt hatte, was ihm einfiele ihn zu wecken, und Isa, die mit Udo unter einer Decke gelegen hatte, ihn mit verschlafenen Augen still angesehen hatte, als wüsste sie nicht, wer er sei, fühlte Jasper sich fremd. So war er bislang noch nie angeschrien worden und Udos vor Wut prustendes Gesicht konnte er nicht vergessen. Und zudem verstand er nicht, was er Falsches getan haben könnte. Die Stimme am Telefon hatte doch nur gefragt, ob Udo da sei. Und dann war er losgegangen, um Udo bescheid zu sagen, dass da jemand am Telefon sei.  
Er war leise in das vordere Zimmer geschlichen, in dem sie vor zwei Jahren beim nach Hause kommen die Katze mit ihren drei Neugeborenen entdeckt hatten. Es war das Spielzimmer, von dem Emil die eine Wand mit dem großen Hammer durchgeschlagen hatte. Dahinter hatten Leo und er ihr Schlafzimmer bekommen. Aber das war bevor Udo in Emils Atelier angefangen hatte zu arbeiten und bevor sie Udo in seiner Wohnung in der Scheidtstrasse besucht hatten wo er mit seiner Frau Marita, deren Schwester Linda und ihrem Freund Robert wohnte. Udo und Robert studierten beide an der Kunstakademie, Udo Architektur und Robert Malerei. Emil und Udo waren bei der Präsentation des Modells für den Terminal 1 des Köln Bonner Flughafens, das Emil für Paul Schneider-Esleben gefertigt hatte, ins Gespräch gekommen, was darin mündete, dass Udo im Atelier in der Oberkasslerstrasse Modellbau lernen wollte. Bald darauf kam dann auch Robert dazu. Herr Reinhardt, der bei der Arbeit immer einen weissen Kittel trug, hatte für die Sudenten nicht viel übrig. Sie waren oftmals unpünktlich und brachten ihre Freundinnen mit, die ihn wiederum von der Arbeit ablenkten. Um Emils willen hätte er es vielleicht noch länger ertragen, aber als dann das Atelier für wilde Partys, zu denen er sich nicht eingeladen fühlte, obgleich er von Emil zum Kommen ermuntert worden war, leergeräumt wurde und am nächsten Tag an Arbeiten nicht zu denken war, weil die Maschinen noch unter weissen Laken in der hintersten Ecke weggeräumt waren, hatte Herr Reinhardt genug. Als am darauf folgenden Tag die Kreissägen, die Standbohrmaschine, die Arbeitstische und was sonst noch für vernünftiges Arbeiten gebraucht wurde, wieder einigermaßen an den angestammten Plätzen stand, sprach er Emil an.  
'So kann ich einfach nicht weiterarbeiten, Herr Fengler, es tut mir Leid. Bei der Unruhe, die hier inzwischen herrscht, mit der lauten Musik bei der Arbeit und dann ständig Besuch. Konzentrieren kann ich mich da nicht. Wirklich, Herr Fengler. Ich werde Sie zum Monatsende verlassen müssen.' Emil war für einen Moment sprachlos. Er hatte den Schwung, den Udo und Robert mitgebracht hatten, so belebend gefunden, dass er gar nicht auf die Idee gekommen war, sein langjähriger Mitarbeiter könnte sich daran stoßen. So saß er auf seinem Drehstuhl und sah zu Herrn Reinhardt, der vor ihn getreten war, empor. Im Hintergrund arbeiteten Udo und Robert jeweils an ihren Arbeitsplätzen weiter, schienen die Szene aber aufmerksam zu verfolgen. Emil sah das Gesicht seines Gegenübers, nahm die schütteren ordentlich frisierten Haare, die frisch rasierten Wangen und die entspannten Gesichtszüge wahr und ihm wurde die Diskrepanz zu seinem eigenen Äußeren unvermittelt bewusst. Ja, er hatte sich von der Art der neuen Mitarbeiter anstecken lassen und hatte begonnen sich selbst wieder jünger zu fühlen. Als er in Düsseldorf ansässig wurde, hatte es eine Zeit gegeben, in der er sich als Künstler empfunden und gehofft hatte bei Beuys aufgenommen zu werden. Dazu hatte es nicht gereicht, aber durch den frischen Wind, der die beiden Neuen begleitete, schien es ihm, als würde sich daran jetzt etwas ändern.  
'Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen, Herr Reinhardt', sagte Emil und sah dabei zwischen Hernn Reinhardt und den beiden jungen Mitarbeitern hin und her, 'wir haben doch schon einen ziemlich weiten Weg gemeinsam bis hierher zurückgelegt. Und wo wollen Sie denn dann weitermachen?'  
Emil hatte nicht bedacht, dass der Entschluss von seinem Angestellten wohlüberlegt und nicht aus einer Laune heraus erfolgt war, sonst hätte ihn die Antwort nicht so getroffen.  
'Oh, ich habe mich schon mit dem Goertz geeinigt. Ich gehe zurück. Wir kennen uns ja, da wird es kaum Probleme geben.' Emil ließ noch eine kurze, kleinlaute Bemerkung fallen und stellte dann fest, dass er noch einen Termin hätte, zu dem er in Kürze müsse. Er erhob sich, legte seinen Kittel über die Lehne seines Stuhls und sagte: 'Also. Dann bis Morgen!'  
Auf dem Weg raus zum Auto hoffte er, dass es ihm nicht anzumerken gewesen sei, wie gekränkt er sich fühlte. Ausgerechnet zurück zum Goertz! Von dem hatte er sich im Streit getrennt und dahin würde der Reinhardt jetzt gehen und all den Tratsch mitbringen, der dort ja so gern gesehen war.  
 
Bevor es ganz dunkel zu werden drohte und das offfene Tor zu Scheune aussah wie ein riesiges Maul, das ihn verschlingen wollte, rannte Jasper über den Hof zur Eingangstreppe, drückte die Tür auf und verkroch sich in seinem Bett.  
Im Traum lief er über einen umgepflügten Acker. Es war dämmerig und der Himmel wolkenverhangen. Jasper musste seine Mutter finden. Gewehrfeuer war nicht zu hören, aber er wusste, dass geschossen wurde. Er rannte verzweifelt erst in die eine Richtung dann in die andere, drehte sich im Laufen suchend um. Irgendwo musste Isa doch sein. Dann spürte er einen festen Schlag auf die Brust von wo ein wärmendes Gefühl sich langsam ausbreitete. Eine Kugel hatte ihn getroffen. Er war tot. Endlich war Alles gut.
24.01.2023 - 16:54:40