Der Vater | einfache Berichte
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Die Teile von Bernward Vespers posthum veröffentlichtem Romanessay 'Die Reise', in welchen er Kindheit und Jugend in Triangel beschreibt, tragen die Überschrift 'Einfacher Bericht'.
Insbesondere die Zeit um 1945 ist für mich insofern interessant, weil dort die Verwandschaft meines Vaters durchscheint. Einige Passagen waren für mich aufschlussreich, die Abläufe nach der Flucht aus Bautzen nachvollziehen zu können. Der Reihe nach werde ich die gefundenen Stellen niederschreiben.
Wenn Bernward Vesper von seinem Vater schreibt, bedeutet das für mich, dass er über den Großvater meines Vaters berichtet. Die Mutter meines Vaters entsprang der ersten Ehe von Will Vesper und Käthe Waentig, Bernward und Heinrike der zweiten zwischen Will Vesper und Rose Rimpau.
Alle Zitate aus: Vesper, Bernward. Die Reise. Frankfurt am Main: März Verlag, Fünfzehnte Auflage, September 1979.
08.06.2024 - 14:42:49▼ ▲
'Die Reise', Seite 28-29:
'Es war im März und die ersten grünbraunen Rasenflecke kamen im Wald durch den Schneeschorf. Ich lief die Waldwege entlang, wo ich sicher war, keine Menschen zu treffen [...] und heulte.
[...]
Diese Tage im Sterbezimmer - Schlaganfall, dann acht Tage im Halbdämmern, bis dies gräßliche Röcheln der Speichelreste in der Luftröhre aufhörte, ich war gerade nicht im Zimmer, sondern meine Schwester Heinrike.
08.06.2024 - 14:54:31 ▼ ▲
'Die Reise', Seite 44:
'(Mein Vater war Mitglied der Preußischen Akademie und gab auf literarischem Gebiet dreißig Jahre lang den Ton an).'
08.06.2024 - 15:13:59 ▼ ▲
'Die Reise', Seite 45-49:
Einfacher Bericht: Ein Gewitter ging nieder über dem Oderbruch, als ich am Nachmittag des 1.8.1938 in der Privatklinik des Dozenten Dr. Hans Dege und seiner Frau Dr. Marie Joachimi-Dege in Frankfurt an der Oder geboren wurde, einige Wochen nach der Heirat meiner Eltern, des Schriftstellers Will Vesper und seiner Frau Rose, geborene Savrada, verwitwete Rimpau, als zweites Kind ihrer Beziehung. Meine Schwester Heinrike, die in dieser Klinik ihr erstes Jahr verbrachte, wurde am 4. Mai 1937 geboren. Hans Rimpau war am 18. Januar 1936 gestorben. Mein Vater ließ sich von seiner ersten Frau, Käte Waentig-Vesper, Mutter von vier Kindern, scheiden. Er zog dann auf das Gut am Südrand der Lüneburger Heide, das der erste Mann meiner Mutter hinterlassen hatte, auf das die beiden Kinder dann, legalisiert, gebracht wurden.
Ich war das jüngste von vier Kindern meiner Mutter, der einzige Sohn. Und einige Tage später erschien ein Bote eines Barons aus dem Oderbruch mit einem Rokokostrauß und einem Brief, einer Gratulation des Herrn, der zufällig von der Anwesenheit der Gattin des Dichters gehört und sich beehrte. [...] Ich war ein Jahr alt, als der Krieg begann und war sechs Jahre, neun Monate und acht Tage alt, als das REICH kapitulierte.
[...]
Dann heiratete meine älteste Halbschwester, und ich hatte einen seidenen Anzug an und erhielt auch einen Orden zum Andenken [...]. [...]
Und ich hörte von den Heldentaten an der Ostfront und von den Schützengräben, die so aussehen mußten wie der Dorfgraben, der am Bahnhof entlangführt, naß und unbequem, und hörte, sie würden für das Vaterland erschossen und viele auch verwundet. Das kam in den Nachrichten, deren Ergebnisse mein Vater in einen großen Atlas mit blauen und roten Stiften eintrug, später hörte er damit auf, er war im ersten Weltkrieg als 'wissenschaftlicher Hilfsarbeiter' in den preußischen Generalstab gekommen.
[...]
Meine Schwester und ihr Mann fuhren 'in den Warthegau'. das war im Herbst 1944.
[...]
Und ich sollte, wenn ich groß würde, Soldat werden, aber ich wollte mich weder erschießen noch Arme oder Beine abschießen lassen noch meine Mutter verlassen, mein großer Halbbruder war in eine Mine geraten und hatte sich die Hand verstümmelt, mein andrer Schwager galt als 'vermisst', meine Neffen kamen in HJ-Uniform, mit Lederkoppel, Knoten und Kletterweste. Das wollte ich vielleicht doch.
[...]
Dann kam der Herbst, und wir durften nicht mehr 'so weit vom Haus weg' und nicht das abgeworfene Lametta sammeln, mit dem 'die Alliierten den Radar störten', und der Schäferhund des Gauleiters vom Warthegau biß unseren Dackel Moritz, so daß mein Vater ihn erschoß und hinter den Azaleen begrub und wir ihm Eicheln aufs Grab legten.
08.06.2024 - 15:26:06 ▼ ▲
'Die Reise', Seite 54-56.
Einfacher Bericht: Die Mutter meines Vaters traf ein und bezog eine Kammer im alten Haus. [...]
Die Schule wurde geschlossen, weil die Fliegerangriffe jetzt auch tags stattfanden. [...] Flüchtlinge kamen. Wagen, mit einer Plane bedeckt, zwei Pferde davor, ein Pferd am Halfterband. Die Ställe füllten sich. In der Schule, in den Arbeitsdienstbaracken wohnten Flüchtlinge. [...] Als Hamburg und Hannover bombardiert wurden [28.März 1945], bekam das neue Haus tiefe Risse. Dann griffen Tiefflieger den Bahnhof an, auf welchem gerade Pferde verladen wurden. [...] Tiefflieger beschossen das Haus [...]. Ein Fenster der Plättstube wurde von einer Maschinengewehrkugel durchschlagen, die ein Tiefflieger abgefeuert hatte. Wir erhielten strenge Anweisung, im Haus. zu bleiben. Im Haus, im Dorf trafen täglich neue Menschen ein, leere Kammern wurden hergerichtet, Betten herumgetragen.
Zwei Tage lang arbeitete mein Vater mit einem Mann im Keller am großen Heizofen und verbrannte Bücher und Papiere. Tigerpanzer gingen in der Sandgrube in Stellung. Waffen-SS und Totenkopf - Wehrwolf [siehe auch:
Spiegel-Artikel] und Endsieg. Man kümmerte sich wenig um die Kinder. Dann stürmte meine Halbschwester herein: 'Der Führer ist gefallen.' [30.April 1945] Es war ein herrlicher Frühlingstag, blau und warm. Dann saßen wir einen halben Tag lang im dunklen Flur des alten Hauses, Granaten zogen über das Haus und schlugen am Westerbecker Berg und im Dorf Westerbeck ein und zerstörten es. Ein Blindgänger fiel in den Park und zersplitterte eine alte Lärche. Das Haus bebte, Kalk rieselte herab. [...] Plötzlich setzte das Bombardement aus. Eine Stille, in der jedes Geräusch der Kauernden wie das erste der Schöpfung schien. 'Sie kommen.' Aber niemand kam, wir gingen schlafen. Sogar mein Vater erschien im Kinderzimmer. Er wartete auf seine Verhaftung. [...] Am nächsten Morgen waren die deutschen Soldaten fort. Am Nachmittag kamen die Panzer ins Dorf, wir gingen trotzdem aus dem Haus, hinter 'den Erwachsenen' her. Die Panzer waren mit Laub bedeckt und Männer sprangen herab. Sie durchsuchten das Haus. Auf der Betonplatte, unter der die Klärgrube liegt, zerschlugen mein Vater und der Inspektor die Gewehre, die die Männer aus dem Dorf bis zum Abend ablieferten. 'Die Kinder' - es waren inzwischen 'Flüchtlingskinder' dazugekommen, wurden an diesem Tag und in den folgenden Wochen nicht so streng beaufsichtigt. In der gleichen Nacht setzten sich die Panzer auf der Straße, die im Westen in einiger Entfernung vom Dorf verläuft, in Bewegung. Ihr Vorbeimarsch dauerte drei Tage und Nächte. Das Dröhnen war heftiger, näher als das der Flugzeuge. [...]
08.06.2024 - 16:34:07 ▼ ▲
'Die Reise', Seite 103-105.
Einfacher Bericht: Die Straße nach Gifhorn war gesperrt. Die Brücke über die Aller sollte gesprengt werden. Zum ersten Mal gab es Milch so viel wir wollten, es standen über hundert Kühe in den Stallungen. Am Nachmittag 'kamen sie'. Unter den Bäumen des Parkes geduckte Männer mit der Maschinenpistole im Anschlag. Auf der Veranda sammelten sich die Soldaten und erhielten je ein Glas Schnaps aus einer Flasche, die mein Vater aus der Anrichte geholt hatte. 'Die Kinder' sollten sich zurückhalten, sich ganz nach hinten stellen.
Die Amerikaner durchsuchten das Haus nach Waffen und deutschen Soldaten. Am Nachmittag sollten wir das Haus räumen. Innerhalb von zwei Stunden waren Pferdewagen vorgefahren, hatten Möbel, Wäschekörbe, Eingemachtes, Teppiche und Uhren aufgeladen und aufs Gut gefahren. Während die Panzer in die Schweinkoppel einbrachen und Geschütze auf großen, grauen Lafetten die Kronen der Apfelbäume zersplitterten, gingen wir hinter dem kleinen Bollerwagen her zum Inspektor. [...]
Wir schliefen in einer kleinen Kammer im ersten Stock des Inspektorhauses. Wir badeten in einem Holzzuber, in das die Mädchen heißes Wasser gossen. [...]
In unserem Haus wohnten jetzt die Amerikaner, ein Wäschekorb stand am eisernen Tor, ein GI schlief Wache, die Knarre im Arm. Das Wachfeuer schwelte, als wir leise vorbeigingen. [...]
Während wir im Inspektorhaus wohnten, sah ich meine Eltern jeden Tag und nachts, wenn die Tür zum Nebenzimmer offen stand, hörte ich meine Mutter, die an einem Biedermeiernähtisch saß. [...]
Als die Amerikaner abzogen, gingen die Männer als erste ins Haus. Wir blieben noch ein paar Wochen, bis 'Ordnung gemacht' und die Flöhe entfernt worden waren [...].
In jedem Zimmer schliefen jetzt Leute: Flüchtlinge oder evakuierte Verwandte und Freunde. Die Ankleidekammer wurde geteilt, meine Schwester und ich schliefen in dem Verschlag, die Nächte waren warm jetzt.
08.06.2024 - 20:52:11 ▼ ▲
'Die Reise', Seite 112.
[...]
Die Garage hinter dem Park: ich weiß, daß man dort das Totenhaus errichtete, als Hans Rimpau unter der Eiche beigesetzt wurde, um einen 'ehrwürdigen Bezirk' zu schaffen. (Die Scheu von uns Kindern beim Unkrautjäten auf dem mit Leberblümchen bewachsenen Grab die Knochen eines Toten mit auszurupfen, wie an der Kiesgrube, wo man, als die Amerikaner Westerbeck beschossen hatten, die in de Ställen getöteten Kadaver verscharrte, die wir noch nach Jahren im gelblichen Anstich als fette, schwarze Stellen erkannten, aus denen ab und zu Gelenkknochen oder ein grünalgiger Rinderschädel herausgeschält wurde.)
Das nach dem Kriege dort Flüchtlinge wohnten, einer jener dekadenten Söhne der Verwandtschaft, der die Spitzen seiner Hemdkragen zerkaute, ein Bruder jenes andren, der, so sagte man, gar nicht 'vor dem Feind', sondern auf der Flucht als Deserteur erschossen wurde, was auszusprechen oder gar gutzuheißen beim Diner am weißgedeckten Tisch auch nach dem aus roten, böhmischen Gläsern getrunkenen deutschen Sekt unmöglich war, [...].
08.06.2024 - 21:19:10 ▼ ▲
'Die Reise', Seite 118-119.
Einfacher Bericht: Bis zum Herbst blieb die Schule geschlossen, weil im Klassenzimmer noch Flüchtlinge hausten - mehrere Parteien hinter spanischen Wänden. Damit wir nicht zu sehr 'verwilderten', wurde für die Kinder auf dem Gut 'Privatunterricht' eingeführt. Aber ich verstand nicht, warum das ABC Alphabet hieß, ich konnte nicht begreifen, daß 4 + 4 = 8 irgendetwas mit mir zu tun hatte, ich lief fort und versteckte mich, statt in die Plättstube zu gehen, wo Tilo Unterricht hielt, ein starker, etwas hilfloser Mann, der eine lederne Reitpeitsche mit silbernem Handgriff bediente, die in eine Lederschlaufe auslief, die unverständlich schmerzte.
Mein Onkel Reinhold war mit einem Dogcart und zwei Trakehnern aus der 'Wehrmacht' getürmt und hatte die Pferde sicher 'in den Westen gebracht'. Mein Vater kaufte die Apfelschimmel, die jetzt vorn im Pferdestall standen, in ihrer eigenen, geräumigen Box, während Castor und Pollux, der Wallach Prinz, ein Hannoverscher Kaltblüter, das Ackerpferd Liese, die jedes Jahr ein Fohlen zur Welt brachte das wir, während es noch nicht trocken war und von seiner Mutter geleckt wurde, schon am frühen Morgen anzusehen gingen und zwanzig weiterer Pferde in den kühlen, immer etwas feuchten, gewölbten, von eisernen Säulen gestützten hinteren Stall stehen mußten.
08.06.2024 - 21:58:12 ▼ ▲
'Die Reise', Seite 320.
Am ersten Regentag, als wir in der Plättstube, die zwischen den Waschtagen nicht benutzt, spielten, zerstörten wir die scheußlichen Wandbilder, die Renate dort angebracht, bohrten mit den Fingern in der Fitzwand, schmierten rote Kreide und Wasser über die blauen Pferde, die Heidehäuser, die läppischen Bauern. Und plötzlich hörten wir Schritte heranstürmen, die Tür sprang auf, Marlene stürzte herein, griff mich, ich weiß nicht warum mich, fensterte mir eine, der erste Schlag ins Gesicht, und am Abend lief alles hin, um sich das Werk der Zerstörung anzusehen und in Klagen auszubrechen über den unersetzlichen Verlust, und dann wieder mein Vater und der Siebenstriem, aber ich hatte in seiner Abwesenheit drei der braunen, harten Lederstriemen, die unten einen Knoten hatten, rausgeschnitten, und es schmerzte nicht mehr so stark.
[...]
Diesmal blieb es nicht bei den Schlägen, mein Vater schien tiefer gekränkt als je zuvor. Den Angriff auf die dilletantische Malerei empfand er als Angriff auf irgend etwas sehr Wertvolles, als eine ausgemachte Roheit, die das was ein Kind normalerweise nicht durfte, weit überschritt. Es war etwas in mir, das sich gegen seine Werte stemmte, etwas, das nicht von ihm stammte, etwas, das nicht von meiner Mutter stammte, oft sagten beide wie aus einem Munde: 'Von mir hat er das nicht.'
08.06.2024 - 23:03:34