Der Vater | I
Ein Leben hinter vorgehaltener Hand
Gilt es bei der Einordnung historischer Prozesse zwischen zwei Staaten, für alle Thesen, Behauptungen und Annahmen Belege vorzuweisen, so gibt es keinerlei derartige Analogie für persönliche Beziehungen zwischen zwei Menschen. Solange nicht vor Gericht Recht gesprochen werden soll, ist es völlig belanglos, ob der Schwager der Schwägerin aufs Hinterteil gestarrt hat oder ob der kleine Bruder den großen Bruder bei den Eltern verpetzt hat. Ausschlaggebend allein ist, was die einzelnen Personen glauben, gesehen oder gehört zu haben. Die Urteile, die darauf basierend getroffen werden, können den Lauf eines ganzen Lebens in die eine oder andere Richtung entscheidend beeinflussen. Das Leben meines Vaters und seiner Brüder wurde durch eine Reihe solcher Urteile dermaßen auf den Kopf gestellt, dass eine einstmalige innige Verbundenheit einer fast lebenslangen Verachtung wich.
Die Scheidung der Großeltern und die kurz darauf folgende Geburt seiner Tante waren meinem Vater die ersten verstörenden Erlebnisse, die seine Familie für ihn bereit hielten.
Ein Jahr zuvor, er konnte sich gerade noch an den vergangenen Sommer erinnern, ahnte er noch nicht, wie schnell die vertraute Welt aus dem Gleichgewicht geraten konnte.
Sie hatten den Großvater und die Großmutter in Meißen besucht, mit seinem ein Jahr älteren Bruder hatte er im Garten am Wasserbasin Kriegen gespielt. Sie waren im Kreis um das Becken gelaufen und hatten dabei versucht einander nass zu spritzen. Mein Vater war zwar langsamer und konnte seinen Bruder nicht recht einholen, dafür war er aber im Vorteil, weil er das Wasser im Vorbeilaufen mit beiden Händen heraus schöpfen konnte und sich nicht umdrehen musste um seinen Bruder zu treffen. Nach ein paar Runden plumpsten sie übereinander und lagen für einen Moment ineinander verknotet auf dem nassen Rasen und lachten sich über einen Witz schlapp, den nur sie allein verstehen konnten.
Am Gartentisch im Schatten der Alpenrose saßen Mutter und Vater mit den Großeltern, etwas abseits beugte sich ihre Tante über den Kinderwagen, in dem das jüngste, gerade zwei Monate alte, Brüderchen lag und schlief. Hummeln umkreisten die violetten Blüten und hin und wieder war leise das Gimpelmännchen zu vernehmen, das im Kirschbaum saß und über irgendetwas schimpfte. Die Sonne brannte heiß und es hätte ein für alle vergnüglicher Tag an der Elbe werden können, doch von einem Moment auf den anderen verstummte das ausgelassene Lachen der beiden Brüder und aus dem Kinderwagen ertönte ein klagender Ruf.
Die beiden Frauen, Mutter und Tochter, standen vom Tisch auf und wandten sich dem Baby zu, das die Tante bereits auf den Arm genommen hatte. Die Männer blieben sitzen, sahen sich nur verkniffen an und schienen einen Streit auf später verschieben zu wollen.
Mein Vater und sein Bruder rappelten sich auf, liefen zu den Handtüchern, die über der Lehne der Gartenbank hingen und warfen sie sich über die Schultern. Sie schauten zu dem schweigenden Vater und Großvater hinüber und erwarteten eine Ermahnung oder eine Ermunterung oder zumindest einen Ausspruch, der erklärte, wie der Tag weitergehen würde. Etwas wie 'oh, es ist aber schon spät', oder 'bald ist Zeit für Abendbrot'. Aber der Großvater erhob sich, ging ohne einen Gruß ins Haus, während der Vater seinem Schwiegervater hinterhersah und einen Kommentar zu unterdrücken schien.
28.05.2024 - 21:04:56