Über Umwege gelangte mein Vater 1954 nach Düsseldorf, wo er nicht lange bleiben wollte, weil die allgemeine Atmosphäre seltsam, nicht Fisch, nicht Fleisch, war und es ihn doch eher nach Köln zog, wo er Freunde hatte und eine Frau wohnte um deren Zuneigung er sich bemühte. Die Pläne gingen nicht Recht auf und er blieb schließlich doch über sechzig Jahre in der Stadt hängen, gegen die er eine leichte Abneigung hegte.
Was ihn ursprünglich nach Düsseldorf verschlagen hatte, kann ich nur anhand der mir vorliegenden Dokumente und einiger eigenen Recherchen vermuten. Eine verlässliche Auskunft ist nach so vielen Jahren nicht mehr zu bekommen.
1949 hatte mein Vater seine Tischlerlehre in Gifhorn abgeschlossen und war als Geselle erst nach Anderten und zwei Jahre später nach Schlangenbad weitergezogen.
Auf dem Weg von seinem bescheidenen Zimmer zur Untermiete in Wiesbaden und seiner Arbeit beim Tischlermeister Hänlein in Schlangenbad muss mein Vater irgendwo Hannes Bolland über den Weg gelaufen sein, der inzwischen in Oberkassel als Innenarchitekt tätig war.
Vor dem Krieg gehörte er zum Kreis der Nerother Wandervögel, die die Burg Waldeck zu ihrem Zuhause gemacht hatten und sich dort nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wieder trafen und sich gemeinsam daran machten ihren Sehnsuchtsort wieder aufzubauen.
Als mein Vater 1953 von Hannes Bolland den Auftrag bekam das Gästehaus herzurichten und Innenausbau sowie Mobiliar zu Tischlern waren weitere 5 Jahre vergangen, in denen die rechtlichen Streitereien um die Nachfolge auf Burg Waldeck beigelegt waren.
26.09.2024 - 0:25:25
Der Vater
Wo beginnen? Mit dem Tag seiner Geburt? In einer Stadt, deren staubige Gassen ich nie mit langen Schritten durchmessen habe? Einer Zeit, so fern von meiner, dass ich sie an ihren Grautönen erkenne? Oder doch mit seinem Tod, weil dieser allein endgültig ist, danach zu allen Anekdoten, Erinnerungen und Dokumenten keine weiteren Zeugnisse seines Daseins hinzukommen?
Soll das Ungesagte, das Ungetane am Anfang stehen; sollen erlittene Qualen oder lieber doch empfangene Freuden den Ausgangspunkt darstellen, von dem aus er sich langsam zu einer Persönlichkeit entwickeln kann?
Die Frage nach dem geeigneten Beginn beantworten zu wollen, hieße ihn bereits zu kennen, den Fremden, der schon fast sein halbes Leben gelebt hatte, bevor ich überhaupt die Bühne betrat, auf der er schon in so viele Rollen geschlüpft war, dass er sein vorheriges Leben vergessen hatte. Womit auch immer ich beginnen sollte, die ersten Worte, die meinen Vater in die Geschichte einführen, bestimmen, wie er gesehen wird. Ist er klein und kindlich, hilflos der Welt, in die er hinein geboren wird, ausgeliefert, oder ist er verwegen und beginnt seinen eigenen Weg zu gehen, gegen alle Hemmnisse, die ihn daran hindern wollen? Hat er bereits Niederlagen erlitten und ist daran gereift? Ist er vor Gram gebeugt, weint verpassten Gelegenheiten nach, oder hat er gelernt schicksalsergeben auszuharren, bis seine Zeit gekommen ist? Natürlich ist er all das. Ist er alles, was ich über ihn in Erfahrung bringen konnte, und auch was ich nicht über ihn erfahren habe, zugleich. Er ist immer alles gleichzeitig, in jedem Moment, den ich an ihn denke.
Ich könnte mit den Erinnerungen beginnen, in denen nur er und ich auftauchen, zu denen es keine Fotografien gibt, keine Aufzeichnungen, die sich vor das als wirklich Empfundene legen können, so dass der Blick darauf entstellt und umgedeutet werden kann. Ich könnte behaupten, dass ich in meinem Innersten ein genaues Abbild meines Vaters mit mir herumtrage, das so unverfälscht und rein ist, dass sich mir durch das bloße Betrachten dieses Bildes sein ganzes Wesen offenbart wird. Ich könnte behaupten, ihn mehr zu kennen, als er sich jemals selbst gekannt hat, weil ich zusammengetragen habe, was er geschrieben hat, was andere über ihn geschrieben haben, weil ich den Inhalt seiner Brieftasche vor mir liegen habe, die Notizen über Bücher, die ihm wichtig schienen, die Fotografien, die er bis zu seinem Ende mit sich trug. Ich könnte die Stunden anführen, die ich Unterlagen gewälzt habe, in denen er nicht auftauchte, könnte die Zitate zurate ziehen, die die Welt, in der sich jeweils bewegte, wiederaufleben lassen, könnte erklären, wo er beinahe gewesen sein, was er beinahe gehört und was gelebt haben könnte. Ich kenne ihn auf so vielfältige Weise und zugleich erkenne ich meine überwältigende Trauer darüber, dass ich ihn nie kennengelernt habe.
Ich könnte damit beginnen aufzuzählen, wer schon alles vor meinem Vater gestorben ist, wer dort gelebt hatte, wo er Hoffnungen gehabt hatte, wo er Pläne schmiedete und sich treiben ließ. Die nach Jahrhunderten zufällig Ausgegrabenen könnte ich erwähnen, die Weitgereisten, Vertriebenen. Die Verhungerten und die Verdursteten. Die Erschlagenen und die mit roher Gewalt verstümmelten. Sie alle glichen meinem Vater. Sie hatten gelebt, hatten ihr Leben bis zum Ende ertragen und hatten niemals erzählt, was ihnen widerfahren war. Ein ums andere Mal sind auf dem Schutt und den Überresten der Gescheiterten neue Siedlungen erbaut worden. Wo einst Böden urbar gemacht und Pflanzen kultiviert wurden, wuchsen nach Jahrhunderten wieder Wälder, wo im Dickicht gejagt wurde entstanden nach Generationen Werkstätten und wurde Wissenschaft betrieben. Dann endlich wurde der eine geboren und machte sich daran, seine Umgebung zu erkunden, Spuren zu hinterlassen. Eine Schneise in das Vorgefundene schlagend würde er andere verletzen und selber verletzt werden und schließlich ohne ein Wort des Dankes oder der Entschuldigung aufhören zu existieren. Es gibt so viele verschieden Arten zu beginnen und sie alle enden im Nichts.
28.05.2024 - 17:46:14